Contergan-Skandal

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Der Contergan-Skandal war einer der aufsehenerregendsten Arzneimittelskandale in der Bundesrepublik Deutschland und wurde in den Jahren 1961 und 1962 aufgedeckt.[1]

Das millionenfach verkaufte Beruhigungsmedikament Contergan, das den Wirkstoff Thalidomid enthielt, konnte bei der Einnahme in der frühen Schwangerschaft Schädigungen in der Wachstumsentwicklung der Föten hervorrufen. Contergan half unter anderem auch gegen die typische morgendliche Schwangerschaftsübelkeit in der frühen Schwangerschaftsphase und galt im Hinblick auf Nebenwirkungen als besonders sicher. Bis Ende der 1950er Jahre wurde es gezielt als rezeptfreies Beruhigungs- und Schlafmittel für Schwangere empfohlen. Es wurde vom 1. Oktober 1957 bis zum 27. November 1961 vertrieben und wurde aufgrund von möglichen Nebenwirkungen auf das Nervensystem ab dem 1. August 1961 rezeptpflichtig. In der Folge kam es zu einer Häufung von schweren Fehlbildungen (Dysmelien) oder gar dem Fehlen (Aplasien) von Gliedmaßen und Organen bei Neugeborenen. Dabei kamen weltweit etwa 5.000–10.000 geschädigte Kinder auf die Welt. Zudem kam es zu einer unbekannten Zahl von Totgeburten. Mitte 2012 gab der Bundesverband Contergangeschädigter auf seiner Internetseite an, dass in Deutschland noch ca. 2.400 Contergan-Geschädigte leben.[2]

1958 wurden Fehlbildungen bei Neugeborenen erstmals im Bundestag diskutiert. Damals wurde ein möglicher Zusammenhang mit Kernwaffentests vermutet. Die Häufung wurde jedoch zunächst aufgrund der in Westdeutschland nach der NS-Vergangenheit gelockerten Meldepflichten, mangelnder Koordination der staatlichen Stellen und der Forschung und weiterer Probleme bei der statistischen Erfassung nicht ernstgenommen. Erst Ende 1961 wurde der Zusammenhang zwischen Contergan und den Fehlbildungen erkannt und das Medikament vom Hersteller, der Grünenthal GmbH in Stolberg vom Markt genommen. Westdeutschland richtete 1961 ein Gesundheitsministerium auf Bundesebene ein. Der Skandal hatte weltweite Auswirkungen auf den Umgang mit Arzneimittelzulassungen. Er wurde mehrmals verfilmt und zur Grundlage verschiedener Bücher, Romane und Studien.

Vorgeschichte

Das Medikament wurde 1954 von Wilhelm Kunz und Heinrich Mückter als „K17“ in der Forschungsabteilung des Stolberger Unternehmens Chemie Grünenthal entwickelt.[3] Tierversuche zeigten zunächst keine konkrete, positive Medikamentenwirkung oder Nebenwirkungen. Erst die Verabreichung an Menschen, anfangs zur Behandlung der Epilepsie, zeigte das hohe Potential der Substanz als Sedativum und Schlafmittel. Am 11. Juni 1956 wurde beim nordrhein-westfälischen Innenministerium die Genehmigung beantragt. Da bei dem Medikament die Eignung zum Suizid aufgrund seiner sehr geringen Akut-Toxizität niedriger war und die Versuche an Nagetieren keine Nebenwirkungen zum Vorschein brachten, konnte das Medikament in vielen Ländern rezeptfrei vertrieben werden. Unter dem Handelsnamen Contergan (25 mg) und Contergan forte (100 mg) war der Wirkstoff Thalidomid darauf ab 1. Oktober 1957 als Schlaf- und Beruhigungsmittel in den westdeutschen Apotheken frei erhältlich.

Atomwaffentests als vermutete Ursache

Die Ende der 1950er zunehmenden Kernwaffentests in der Atmosphäre schürten vielerlei Ängste. Am 10. Mai 1958 veröffentlichte der Bayreuther Kinderarzt Dr. med. Karl Beck in der „Schwäbischen Landeszeitung“ einen Artikel und behauptete, die Zahl der missgebildeten Kinder steige aktuell deutlich an und dies sei auf die Atomtests zurückzuführen.[4] Die Untersuchungen Becks führten zu einer Anfrage Erich Mendes im Bundestag am 14. Mai 1958. Die Bundesregierung, namentlich das Innenministerium, wurde ersucht, festzustellen, ob die „Zahl der Missgeburten (Lebend- und Totgeburten)“ seit 1950 zugenommen habe und ob ein Zusammenhang mit der Einwirkung radioaktiver Strahlung bestehe.[4] Die Bundesregierung wies in ihrer Antwort die Behauptung einer Zunahme von Fehlbildungen mit Hinweis auf statistische Daten zurück und stritt den Zusammenhang mit Kernwaffen ab. 1959 ergriff der Freiburger Pathologe Franz Büchner erneut die Initiative und kritisierte Einzelheiten des Berichts. Damals waren erst knapp 90 Kinder mit conterganbedingten Schäden auf die Welt gekommen. 1961 wurde aufgrund einer Elterninitiave in Hamburg erneut der Zusammenhang mit den Kernwaffentests angefragt, in diesem Fall an den Bundespräsidenten.[4]

Erste Entdeckung von Nebenwirkungen

Am 31. Dezember 1960 wurde erstmals die Ärztin Leslie Florence auf die fruchtschädigende Wirkung von Thalidomid aufmerksam, woraufhin der Direktor der Kölner Universitätsnervenklinik Werner Scheid 1961 die Rezeptpflicht forderte. Zunächst bestritt die Firma Grünenthal die Zusammenhänge zwischen Contergan und den Erkrankungen, beantragte jedoch am 26. Mai 1961 die Rezeptpflicht, die am 1. August 1961 wirksam wurde.

Erstmals berichtete auch die Presse über Contergan: In zwei Artikeln informierte Der Spiegel am 16. August 1961 unter dem Titel „Zuckerplätzchen forte“ über die Nervenschäden.[5] Dies führte zu einem drastischen Umsatzeinbruch. Seit 1959 wurde in der Bundesrepublik eine weitere Zunahme von Missbildungen bei Neugeborenen beobachtet. In der ersten Fachpublikation berichtete der Arzt Hans-Rudolf Wiedemann im September 1961,[6] dass in der Städtischen Kinderklinik Krefeld in den vorausgegangenen zehn Monaten 13 Fälle von Gliedmaßenfehlbildungen beobachtet worden waren.[3] Da er aber die Ursache nicht ausmachen konnte, nahm er an, dass dies an einem neu eingeführten „toxischen Faktor“ liege, den man noch nicht kenne. Die Öffentlichkeit spekulierte weiter über eine mögliche Schädigung durch Kernwaffentests, was die Aufklärung verzögerte.[4]

Entdeckung der Missbildungsfälle

1961 entdeckten schließlich der Hamburger Arzt Widukind Lenz und der australische Gynäkologe William Griffith McBride[7] unabhängig voneinander den Zusammenhang zwischen Contergan und den Missbildungen. Nach einem Zeitungsartikel in der Welt am Sonntag vom 26. November 1961[8] zog Grünenthal schließlich am darauffolgenden Tag Contergan aus dem Handel. Das Unternehmen war bereits am 15. November telefonisch von Lenz in Kenntnis gesetzt worden, hatte aber noch am 24. November abgelehnt, das Medikament vom Markt zu nehmen und für den Fall eines Verbotes mit Regressansprüchen gedroht.[3]

Hintergrund

Im Westdeutschland der Nachkriegszeit hatten sich Öffentlichkeit und Ärzteschaft gegen eine verpflichtende Meldepflicht von Fehlbildungen bei Neugeborenen gewehrt. Man scheute sich, das Meldewesen auf Basis des nationalsozialistischen Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses weiterzuführen,[9] das eng mit den Verbrechen der Aktion T4 verknüpft war. Damit wurden die zunehmenden Missbildungen in Westdeutschland lange nicht zentral erfasst und ernstgenommen. Zusätzlich traten die unterschiedlichen Schädigungen durch Thalidomid nur auf, wenn das Schlafmittel in der so genannten ‚sensiblen Phase‘ der Organentwicklung zwischen dem 27. und 40. Tag nach der Empfängnis bzw. dem 34. und 50. Tag nach Beginn der letzten Menstruation eingenommen wurde.

Anlässlich der Parlamentsanfrage 1958 zu einem möglichen Zusammenhang zwischen Kernwaffentests und Fehlbildungen wurde erst parallel zur Freigabe von Thalidomid wieder begonnen, Schadensmeldungen systematisch auszuwerten. Damit war zunächst keine Steigerung der Fehlbildungen zu finden. Die zudem eingerichtete Kommission und zugehörige Forschung bei der DFG verzögerte die Aufklärung zunächst mehr, als sie sie förderte. Der zuständige Wissenschaftler, der Freiburger Pathologe Franz Büchner, wollte vor allem seine teratologische Fachtheorie beweisen, wonach ungesunde Ernährung und Verhalten der Mütter zu Missbildungen beitrügen, und nutzte das Projekt, um andersmeinende Fachkollegen zu isolieren.[9] Sein Gegenspieler, der Genetiker Hans Nachtsheim, betonte vor allem Ursachen, die in den Erbanlagen zu finden seien. Die NS-Vergangenheit von Nachtsheim erleichterte das Vorgehen des erklärten Moralisten Büchner, der auch unter dem Spitznamen Heiliger Franz bekannt war.

Folgen

Nach Informationen des Bundesverbands Contergangeschädigter kamen insgesamt etwa 5000 contergangeschädigte Kinder zur Welt. Andere Quellen sprechen von 10.000 Fällen weltweit, von denen 4000 auf Deutschland entfielen. Von diesen ist die Hälfte bereits verstorben. Hinzu kommt eine unbekannte Zahl von Kindern, die während der Schwangerschaft gestorben sind.

USA

1962: Frances Oldham Kelsey wird durch John F. Kennedy für ihr Engagement gegen Thalidomid geehrt

Die FDA-Pharmakologin Frances Oldham Kelsey hatte die Freigabe für Thalidomid als Medikament gegen die Schwangerschaftsübelkeit mehrmals verzögert. Kelsey zweifelte trotz der bereits erhaltenen Freigabe in Kanada und Europa die erhaltenen Unterlagen an. Kelsey hatte verschiedene Hinweise auf durch Thalidomid ausgelöste nervöse Reaktionen zum Anlass genommen, weitere Tests vor der Freigabe zu fordern. In der Testphase in den USA wurden mehrere Dutzend Kinder mit Behinderungen geboren, weitere kamen durch die Einnahme des Medikaments im Ausland zu Schaden.

Österreich und Schweiz

Contergan wurde in Österreich und der Schweiz unter dem Namen Softenon verkauft und fiel unter die Rezeptpflicht. Infolgedessen bewegte sich die Zahl der geschädigten Kinder hier im niedrigen zweistelligen Bereich.[10] In Österreich wurde die Rezeptpflicht von Ingeborg Eichler, einem Mitglied der Arzneimittel-Zulassungskommission, durchgesetzt.

DDR

Auch in der DDR interessierte man sich für die Herstellung des Mittels. Doch nach Prüfung durch den Zentralen Gutachterausschuss für den Arzneimittelverkehr unter Vorsitz des bekannten Pharmakologen Friedrich Jung wurde die Herstellung abgelehnt. Der schwedische Biochemiker Robert Nilsson wurde damals bei einem Besuch in der DDR von einem Mitglied des Arzneimittelausschusses gefragt, ob Contergan als Derivat der Glutaminsäure nicht die normale Entwicklung des Fötus schädigen könne, weil es als Antivitamin wirke.[11]

Prozess

Das Hauptverfahren gegen Grünenthal wurde am 18. Januar 1968 vor der Großen Strafkammer des Landgerichts Aachen gegen verschiedene Beteiligte wegen vorsätzlicher oder fahrlässiger Körperverletzung und fahrlässiger Tötung eröffnet. Angeklagt wurden der Eigentümer Hermann Wirtz, der wissenschaftliche Direktor Heinrich Mückter, der Geschäftsführer Jacob Chauvistré sowie der kaufmännische Leiter, der Vertriebsleiter, der Abteilungsleiter und weitere bei Grünenthal beschäftigte wissenschaftliche Mitarbeiter, Ärzte und Prokuristen. Die Anklage vertrat der Oberstaatsanwalt Josef Havertz. Eine Medienpräsenz in Stolberg wurde weitestgehend vermieden; die Prozesseröffnung fand in Aachen statt, die folgenden Sitzungen im zehn Kilometer entfernten Alsdorf, da in Aachen kein für alle Prozessbeteiligten genügend großer Saal zur Verfügung stand. Sitzungsort war das Casino „Anna” des EBV in Alsdorf-Mitte. Erster Verhandlungstag war der 27. Mai 1968.

Die Anklage wurde von drei Staatsanwälten vertreten. Von den Geschädigten wurden 312 als Nebenkläger zugelassen. Die Nebenklage der Eltern wurde vertreten von den Rechtsanwälten Rupert Schreiber und Karl-Hermann Schulte-Hillen. Schreiber war Privatdozent für Rechtswissenschaft an der Universität Köln. Schulte-Hillen war wie sein Bruder Gerd Schulte-Hillen selbst Vater eines contergangeschädigten Kindes. Den ursprünglich neun, zuletzt nur noch fünf Angeklagten standen 20 Strafverteidiger zur Seite. Sowohl für die Berufsrichter als auch die Laienrichter stand eine große Zahl von Ergänzungsrichtern bereit. Es wurden insgesamt rund 120 Zeugen gehört.

Am 242. Verhandlungstag stellten die Vertreter der Nebenkläger gegen den beisitzenden Richter und Landgerichtsdirektor Melster einen Befangenheitsantrag, weil er bei einem Gespräch mit einem Verteidiger der Grünenthal-Verantwortlichen gesehen worden war. Als sich auch die Staatsanwaltschaft außerstande sah, dem Ablehnungsantrag entgegenzutreten, erklärte sich der betreffende Richter selbst für befangen und schied so aus dem Verfahren aus.

Am 10. April 1970 schlossen die Eltern der Geschädigten durch den Nebenklagevertreter, Rupert Schreiber, mit Grünenthal einen Vergleich. Dazu gehörte ein weiterer Klageverzicht und ein Entschädigungsbetrag von 100 Millionen Deutsche Mark, den die Firma Grünenthal in die Stiftung „Hilfswerk für behinderte Kinder“, später umbenannt in Conterganstiftung, einzahlte. Am 283. Verhandlungstag, dem 18. Dezember 1970, wurde das Strafverfahren wegen geringfügiger Schuld der Angeklagten und mangelnden öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung nach § 153 StPO eingestellt.

Außerdem fördert die Conterganstiftung Projekte, die bis 2009 allgemein behinderten Menschen zugute kamen[12] , seitdem nur noch contergangeschädigten Menschen[13]. Zudem soll seitdem ein Netzwerk aufgebaut werden, das Wissen zum Umgang mit Conterganschädigungen in Form einer Wissensdatenbank zur Verfügung stellt.

Entschädigung der Contergangeschädigten

Aus den erwähnten Einzahlungen in die Stiftung wurden zunächst folgende Entschädigungen ausgezahlt:[14]

Schadenspunkte Kapitalentschädigung monatliche Rente
1-4,99 2.500,– DM
5-9,99 5.000,– DM
10-14,99 7.500,– DM 100,– DM
15-19,99 7.500,– DM 150,– DM
20-24,99 15.000,– DM 200,– DM
25-29,99 15.000,– DM 250,– DM
30-34,99 12.500,– DM 300,– DM
35-39,99 12.500,– DM 350,– DM
40-44,99 15.000,– DM 400,– DM
45-49,99 15.000,– DM 450,– DM
50-59,99 17.500,– DM 450,– DM
60-69,99 20.000,– DM 450,– DM
70-79,99 22.500,– DM 450,– DM
80-… 25.000,– DM 450,– DM

Die monatlichen Beträge wurden mehrfach angepasst: 1976 25 %, 1980 13 % 1982 11 %, 1985 8 %, 1988 6 %, 1991 8 %, 1993 7 %, 1997 8 %, 2002 4 %, so dass die Renten von 2002 bis 2008 zwischen 121 Euro und 545 Euro lagen.[15]

Der in die Stiftung geflossene Betrag von Grünenthal über 100 Millionen DM wurde ergänzt um Einzahlungen des Bundes, zunächst auch 100 Millionen DM, im Laufe der Jahre weitere 220 Millionen DM, aufsummiert 320 Millionen DM (163,6 Mio. €)[16]. Seit Mai 1997 werden die Renten vollständig aus dem Bundeshaushalt gezahlt, da die hierfür vorgesehenen Stiftungsmittel aufgebraucht sind. 2011 wurden dafür ca. 35 Millionen Euro bereitgestellt.[17]

Der Bundestag beschloss Anfang Mai 2008 einstimmig „als ersten Schritt in die richtige Richtung“[18] eine Verdoppelung der monatlichen Entschädigungszahlungen an Contergangeschädigte. Nun bezahlt die Conterganstiftung den Betroffenen zwischen 242 und 1090 Euro. Die Staffelung orientiert sich an der Schwere der Behinderung.

Anfang Mai 2008 kündigte Grünenthal an, freiwillig weitere 50 Millionen Euro in die Contergan-Stiftung einzubezahlen, was Mitte Juli 2009 umgesetzt wurde. Daraus speist sich seitdem eine jährliche Sonderzahlung, die im Gegensatz zur Rente in 5er-Schritten nicht bei 45 Schadenspunkten gedeckelt ist, sondern deren Staffelung bis 80 Punkte in 10er Schritten reicht.[19]

Einen Tag vor der Anhörung im Familienausschuss zum Abschlussbericht der Studie zur Situation der contergangeschädigten Menschen[20] am 1. Februar 2013 stellte der Koalitionsausschuss 120 Millionen Euro jährlich zusätzlich für die Entschädigung zur Verfügung, von denen ca. 90 Millionen Euro in die Erhöhung der Renten und 30 Millionen in unbürokratischere medizinische und pflegerische Hilfen und Heil- und Hilfsmittel fließen sollen, wobei Details noch offen sind.[21]

Im internationalen Vergleich wurden 2008 in Großbritannien im Durchschnitt 2100 Euro pro Monat ausgezahlt[22] Eine internationale Studie zu Leistungen und Ansprüchen thalidomidgeschädigter Menschen in 21 Ländern[23] brachte Anfang 2012 einen genaueren Überblick über die Entschädigungen in anderen Ländern.

Nachwirkungen

Der Skandal hatte ähnlich wie die Sulfanilamid-Katastrophe umfangreiche Wirkung auf das Arzneimittelrecht und die Zulassung von Medikamenten. Das 1962 angepasste amerikanische Arzneimittelrecht war in vieler Hinsicht ein Modell, dem eine große Zahl weiterer Länder gefolgt ist. Zentrale Regelungen dieses Gesetzes wurden durch das Kefauver-Harris Drug Amendment von 1962 verschärft, welches parallel zur Aufdeckung des Contergan-Skandals beraten wurde. Mit dieser Gesetzesänderung wurde erstmals ein Nachweis für die therapeutische Wirksamkeit gefordert, die in geeigneten, kontrollierten Studien nachzuweisen war. Zuvor war es ausreichend gewesen, die pharmazeutische Herstellungsqualität und die Unbedenklichkeit nachzuweisen.

Die Rechtsprechung um Contergan hatte ebenso Auswirkungen auf die Produkthaftung und die Verantwortung von Führungskräften und nicht zuletzt auch auf den Umgang der Behörden mit Haftungsfragen. Das Verfahren als solches wurde 1971 vom Landgericht Aachen nach der Zahlung eines Millionenbetrags von Grünenthal und der Bundesregierung eingestellt.[24]

Neben der Conterganstiftung gibt es weitere unabhängige Interessenverbände von Betroffenen und Angehörigen, beispielsweise den Bundesverband Contergangeschädigter e.V., den Bund Contergangeschädigter und Grünenthalopfer e.V. und das Contergannetzwerk Deutschland e.V.

Der Wirkstoff ist als Arzneimittel der Firma Celgene in den USA seit 1998 unter dem Markennamen Thalomid zur Behandlung des Erythema Nodosum Leprosum, seit 2006 ferner zur Behandlung des multiplen Myeloms[25] zugelassen, man geht von Umsätzen um 300 Millionen Dollar im Jahr aus.[26] Seit 2008 vermarktet Celgene Thalidomid Celgene in der EU.[27].

Conterganstiftungsgesetz

Das am 18. Oktober 2005 im Bundesgesetzblatt (BGBL: I S. 2967) verkündete und am 19. Oktober 2005 in Kraft getretene Gesetz über die Conterganstiftung für behinderte Menschen (Conterganstiftungsgesetz – ContStifG) führte zur Änderung des Namens der Stiftung „Hilfswerk für behinderte Kinder“ in „Conterganstiftung für behinderte Menschen“. Ferner bezweckt es den Abbau von Bürokratie, die Änderung von Verfahrensvorschriften und eine Anpassung des bisherigen Stiftungsgesetzes an die aktuellen Gegebenheiten.

Contergan – Film über den Skandal

Hauptartikel: Contergan (Film)

Contergan ist ein als Fernseh-Zweiteiler konzipierter Film des Fernsehproduzenten Michael Souvignier, in dem der Contergan-Skandal fiktional aufgearbeitet wird. Das Drehbuch des Films schrieb Benedikt Röskau, Regie führte Adolf Winkelmann, Hauptdarsteller sind Katharina Wackernagel und Benjamin Sadler. Die Rolle der contergangeschädigten Tochter der Hauptpersonen wird von Denise Marko aus Schrobenhausen gespielt, einem Mädchen, das durch einen genetischen Defekt 1995 ohne Arme und mit nur einem Bein geboren wurde.

Am 28. Juli 2006 stoppte das Hamburger Landgericht den Fernsehfilm des Westdeutschen Rundfunks (WDR) über den Contergan-Skandal, der im Spätherbst als Zweiteiler unter dem Titel Contergan – Eine einzige Tablette ausgestrahlt werden sollte. Grünenthal und der Rechtsanwalt Schulte-Hillen, der die Geschädigten vertreten hatte und sich in dem Film ehrverletzend dargestellt sah, hatten gegen den WDR und die Kölner Produktionsfirma Zeitsprung geklagt.

Mittlerweile wurde das Verbot der Ausstrahlung des Zweiteilers aufgehoben; zur Erfüllung einer Auflage des OLG Hamburg wurde eine klarstellende Szene nachgedreht, gekürzt wurde der Film nicht. In der Hauptsache sollte am 20. Juli 2007 ein erstinstanzliches Urteil ergehen. Grünenthal hatte aber schon zuvor am 10. Mai 2007 Verfassungsbeschwerden beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in Karlsruhe eingelegt. Gleichzeitig wurden Eilanträge auf Erlass einstweiliger Anordnungen gestellt, da der Film zeitnah auf Filmfestivals und in der ARD gezeigt werden sollte. Um der Entscheidung des höchsten Gerichts nicht vorzugreifen, hat die Produktionsfirma Zeitsprung den Film vom Filmfest München, auf dem eine Vorführung am 24. Juni 2007 stattfinden sollte, zurückgezogen. In einer am 5. September 2007 veröffentlichten Eilentscheidung wiesen die Karlsruher Richter die Klagen des Contergan-Herstellers Grünenthal sowie eines Anwalts ab.[28][29]

Die ARD hat den Film am 7. und 8. November 2007 mit begleitenden Dokumentationen ausgestrahlt. Der Österreichische Rundfunk (ORF) hat den Zweiteiler ebenfalls an diesen Tagen gezeigt.

Erst 46 Jahre nach Bekanntwerden der schädigenden Wirkung kam es durch die geballte Medienpräsenz des Themas durch den 50. Jahrestag der Markteinführung von Contergan und den Fernsehzweiteiler Contergan kurz darauf zu ersten Gesprächen am 7. Dezember 2007 zwischen Grünenthal und dem Bundesverband der Contergangeschädigten.[30]

NoBody’s Perfect – Dokumentarfilm

In diesem Film dokumentierte der selbst Contergan-geschädigte Niko von Glasow seine ganz persönliche Suche nach elf Menschen mit dem Ziel, einen Bildband mit Aktfotografien von Contergan-Menschen zu erstellen. Diese Bilder wurden dann auch auf dem Kölner Domvorplatz der Öffentlichkeit gezeigt. Die ARD hat den Film am 10. August 2010 ausgestrahlt.[31]

Hungerstreik von Conterganopfern 2008

Am 18. September 2008 waren drei Opfer des Conterganskandals (Stephan Nuding, Norbert Schweyen und Gihan Higasi) sowie die Mutter eines der Opfer (Helga Nuding) in einen unbefristeten Hungerstreik eingetreten, um die Bundesregierung dazu zu bewegen, mit ihnen in Verhandlungen über eine Erhöhung der monatlichen Renten einzutreten (gefordert wurde eine Erhöhung auf das Dreifache des bisherigen Standes). Außerdem forderten sie Gespräche mit der Firma Grünenthal, insbesondere der Eignerfamilie Wirtz, in denen es um ein Eingeständnis der Schuld und eine Zahlung von durchschnittlich einer Million Euro Schmerzensgeld gehen sollte. Die Opfer betonten, dass sie sich in ihrer Würde durch das Verhalten von Grünenthal und der Bundesregierung verletzt sähen, und forderten die finanziellen Mittel, die Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben seien. Die Hungerstreikenden wurden in ihrem Vorhaben von der evangelischen Kirchengemeinde Altenberg/Schildgen unterstützt[32] und bezogen ein Quartier im Gemeindezentrum.[33] Am 14. Oktober wurde der Hungerstreik bis auf weiteres beendet. Am 17. November 2008 waren Helga Nuding, Stephan Nuding und Gihan Higasi zusammen mit Markus Kurth Gäste bei Beckmann.[34] Vom Streik wurde auch mehrfach in der Presse berichtet.[35]

Errichtung eines Denkmals 2012, Entschuldigung und Reaktionen

Ende August 2012 wurde im Foyer des Kulturzentrums in Stolberg, dem Sitz von Grünenthal, ein Denkmal für die Contergan-Opfer enthüllt, das der Aachener Künstler Bonifatius Stirnberg auf Initiative eines Betroffenen schuf.[36] Dabei handelt es sich um eine Bronze-Skulptur, die ein auf einem Stuhl sitzendes Mädchen ohne Arme und mit missgebildeten Füßen zeigt. Daneben ist ein zweiter, leerer Stuhl zu sehen, stellvertretend für die jung Verstorbenen. Das Denkmal ist beschriftet mit dem Text: „Zur Erinnerung an die Toten und Überlebenden der Contergankatastrophe.“ Die Kosten von 5000 Euro für das Denkmal wurden von Grünenthal übernommen. Der Bundesverband Contergangeschädigter nahm an der Präsentation des Denkmals nicht teil und kritisierte diese als „medienwirksamen Coup“.[37]

Harald Stock, Geschäftsführer des Contergan-Herstellers, entschuldigte sich anlässlich der Einweihung des Denkmals erstmals bei den Geschädigten mit den Worten: „Darüber hinaus bitten wir um Entschuldigung, dass wir 50 Jahre lang nicht den Weg zu Ihnen, von Mensch zu Mensch, gefunden haben. Stattdessen haben wir geschwiegen.“[38][39][40] In der Vergangenheit hatte das Unternehmen bereits mehrfach sein Bedauern über die „Tragödie“ zum Ausdruck gebracht, sich aber noch nicht direkt bei den Contergan-Geschädigten entschuldigt. Betroffenenverbände wie der BV, der BCG und das CND kritisierten, dass sich diese Entschuldigung nur auf die mangelhafte Kommunikationsbereitschaft der Firma bezöge und dass bezüglich der eigentlichen Tragödie weiterhin nur von Bedauern und Mitgefühl gesprochen werde.[41] Kritik äußerten auch britische, australische und japanische Opfervertreter. Es werde von Grünenthal kein tatsächliches Fehlverhalten eingeräumt. Die Kritik wurde mit Forderungen nach finanzieller Entschädigung der Opfer verbunden.[42][43][44] Eine weiter reichende Entschuldigung bei den Contergan-Geschädigten lehnte Harald Stock laut einem kurz darauf veröffentlichtem Interview mit der Wirtschaftswoche ab, da nach damaligem Stand keine Schuld vorläge. Stattdessen wurde, zusätzlich zur Härtefallregelung und zur bestehenden Conterganstiftung eine weitere Stiftung für Contergangeschädigte angekündigt.[45]

Literatur

  • Carsten Büll, Martin Dreßler u. a. : Contergan – Fünf Lebensgeschichten. Hintergründe zur Geschichte von Contergan und zur Situation Contergan-Geschädigter heute. Wellhöfer, Mannheim 2007, ISBN 978-3-939540-00-7.
  • Nicholas Eschenbruch (Hrsg.): Arzneimittel des 20. Jahrhunderts. Historische Skizzen von Lebertran bis Contergan, Transcript, Bielefeld 2009, ISBN 978-3-8376-1125-0 ( = Science studies).
  • Niko von Glasow, Ania Dabrowska (Fotos): NoBody´s Perfect. Sandmann, München 2008, ISBN 978-3-938045-10-7.
  • Beate Kirk: Der Contergan-Fall: eine unvermeidbare Arzneimittelkatastrophe? Zur Geschichte des Arzneistoffs Thalidomid. Mit einem Geleitwort von Christoph Friedrich. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 1999, ISBN 3-8047-1681-4 (Zugleich Dissertation an der Universität Greifswald 1998).
  • Catia Monser: Contergan, Thalidomid. Ein Unglück kommt selten allein. Eggcup, Düsseldorf 1993, ISBN 3-930004-00-3.
  • Herfried Münkler, Matthias Bohlender, Sabine Meurer (Hrsg.): Sicherheit und Risiko: Über den Umgang mit Gefahr im 21. Jahrhundert. Transcript, Bielefeld 2010, ISBN 978-3-8376-1229-5.
  • Fritz U. Niethard, René Baumgartner (Hrsg.): Contergan: 30 Jahre danach, 5 Tabellen. Enke, Stuttgart 1994, ISBN 3-432-25781-3.
  • Henning Sjöström, Robert Nilsson: Thalidomide and the Power of the Drug Companies. Penguin Books, 1972; deutsche Übersetzung: Contergan oder die Macht der Arzneimittelkonzerne. VEB Verlag Volk und Gesundheit, Berlin (Ost), 1975 (ohne ISBN).
  • Ludwig Zichner u. a. (Hrsg.): Die Contergankatastrophe. Eine Bilanz nach 40 Jahren. In: Jahrbuch Deutsches Orthopädisches Geschichts- und Forschungsmuseum, Frankfurt am Main. Band 6. Steinkopff, Darmstadt 2005, ISBN 978-3-7985-1479-9.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. „Ich habe gelernt über mich zu lachen“ (Interview mit Thomas Quasthoff), Die Welt, 2. Oktober 2007, S. 10.
  2. Bundesverband Contergangeschädigter: GRÜNENTHAL-Faktencheck, abgerufen: 1. September 2012
  3. 3,0 3,1 3,2 http://www.k-faktor.com/contergan/files/unendliche_geschichte.pdf, „Eine unendliche Geschichte“ von Prof. Klaus Roth.
  4. 4,0 4,1 4,2 4,3 http://www.aerzteblatt.de/archiv/57224/ Klaus-Dieter Thomann, Die Contergan-Katastrophe: Die trügerische Sicherheit der „harten“ Daten THEMEN DER ZEIT
  5. http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-43365676.html, Spiegel vom 16. August 1961 „Zuckerplätzchen forte“
  6. H.-R. Wiedemann, „Die Medizinische Welt“, 1961 (September), 1863.
  7. McBrides Bericht am Ende Dezember 1961 in „Lancet“ (1961, 1358)
  8. Faksimile des Originalartikels von 1961 in diesem Rückblick enthalten: Welt Online am 21. November 2011: Das „harmlose“ Schlafmittel und der große Skandal. Abgerufen am 26. November 2011.
  9. 9,0 9,1 Die Contergankatastrophe: Eine Bilanz Nach 40 Jahren, Ludwig Zichner, Michael A. Rauschmann, Klaus-Dieter Thomann, Gabler Wissenschaftsverlage, 2005 – 190 Seiten
  10. In Österreich bis 1962 auf dem Markt auf ORF
  11. DDR-Bürger schliefen ohne Contergan Neues Deutschland 4. November 2007
  12. Siehe Stiftungsgesetz von 2005 im Bundesgesetzblatt, abgerufen am 2. Februar 2013
  13. Projektförderung seit 2009 auf der Seite der Stiftung, abgerufen am 2. Februar 2013
  14. Bundesanzeiger Nr. 189 vom 6. Oktober 1973
  15. zu den Rentenhöhen siehe auch "Rentenentwicklung Matrix" auf der Seite der Stiftung, abgerufen am 2. Februar 2013
  16. Gesamtsumme laut Webseite der Stiftung
  17. Geschäftsbericht der Stifung 2011, abgerufen am 2. Februar 2013
  18. Bericht über die Öffentliche Anhörung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
  19. Siehe Anlage 4 auf der Seite der Stiftung, abgerufen am 2. Februar 2013
  20. Abschlussbericht der Studie Wiederholt durchzuführende Befragungen zu Problemen, speziellen Bedarfen und Versorgungsdefiziten in Deutschland lebender contergangeschädigter Menschen bei der Stiftung, abgerufen am 2. Februar 2013
  21. 120 Millionen Euro zusätzlich für Contergan-Opfer in der Welt vom 1.2.2013, abgerufen am 2. Februar 2013
  22. Contergan-Allianz in Wesseling gegründet, abgerufen am 2. Februar 2013
  23. Studie auf der Seite der Stiftung, abgerufen am 2. Februar 2013
  24. Handbuch WirtschaftsstrafrechtHans Achenbach, Verlag Hüthig Jehle Rehm, 2011 – 1.762 Seiten
  25. http://www.cancer.gov/cancertopics/druginfo/fda-thalidomide
  26. MA Ismail (7. Juli 2005): FDA: A Shell of its Former Self. In: Pushing Prescriptions. The Centre for Public Integrity. Abgerufen am 12. Mai 2012.
  27. http://www.ema.europa.eu/ema/index.jsp?curl=pages/medicines/human/medicines/000823/human_med_001090.jsp&mid=WC0b01ac058001d124
  28. WDR darf Contergan-Film vollständig zeigen Netzeitung, 5. September 2007.
  29. Eilanträge abgelehnt: Contergan-Film darf im November ausgestrahlt werden Bundesverfassungsgericht, Pressemitteilung Nr. 88/2007 vom 29. August 2007.
  30. PM des Bundesverbandes
  31. [1] Kommentar im Weser Kurier vom 16. Juli 2010
  32. Kirchengemeinde Altenberg/Schildgen
  33. Homepage des Hungerstreiks
  34. Hungerstreiker bei Beckmann
  35. taz 6. Oktober 2008, Zeit 14. Oktober 2008 und andere, siehe auch Streikseite
  36. Contergan-Hersteller entschuldigt sich erstmals bei Opfern. Süddeutsche Zeitung, 31. August 2012, abgerufen am 1. September 2012.
  37. Medikamentenskandal um Firma Grünenthal: Contergan-Hersteller entschuldigt sich erstmals bei Opfern bei sueddeutsche.de, 31. August 2012 (abgerufen am 31. August 2012), s.a. PM des Bundesverbandes, abgerufen am 1. September 2012.
  38. Rede von Dr. Harald F. Stock abgerufen am 1. September 2012
  39. Arzneimittel-Skandal: Contergan-Hersteller bittet um Entschuldigung bei welt.de, 31. August 2012 (abgerufen am 31. August 2012).
  40. Entschuldigung im Contergan-Skandal – 50 Jahre Schweigen abgerufen am 1. September 2012
  41. Pressemitteilung des Bundesverbandes, abgerufen am 1. September 2012, und Rundmail des BCG „an alle Foren und Verteiler“, abgerufen am 1. September 2012 via Contergan Schleswig-Holstein und Forum Contergantreff.eu und Pressemitteilung des CND, abgerufen am 2. September 2012
  42. Weltweite Kritik an Entschuldigung von Contergan-Firma
  43. Leere Hülse und ein PR-Gag abgerufen am 2. September 2012
  44. Entschuldigung ist für Verbände „beleidigender Unsinn“
  45. Keine weiterreichende Entschuldigung an Contergan-Geschädigte, Interview der Wirtschaftswoche, abgerufen am 8. September 2012

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